So rühmt sich Wagner, der Famulus Fausts in der Szene „Nacht“ im ersten Teil von Goethes Faust. Wagner glaubt an den linearen, fortlaufenden Erkenntnisweg der Wissenschaften. Faust hingegen ist vom Zweifel ganz und gar ergriffen. Beide Figuren verkörpern den Widerstreit zwischen Gott und Mephisto um die Seele des Menschen auf der Erdenebene. Im Lichte der Archetypen handelt es sich dabei um das Ringen für ein rechtes Verständnis von Polarität, von Zweiheit, Zweifel und „Zwist“ – der Zahl ZWEI. Zwei Punkte zeichnen eine Linie. Wagner glaubt an die Linearität. Er glaubt daran, durch die Fortführung dieser Linie zur totalen Erkenntnis gelangen zu können.
Doch der linear angeordnete Zahlenstrahl täuscht uns die Existenz der Linearität nur vor. Wie Famulus Wagner denken auch wir linear. Wir denken im Bild der Folge der natürlichen Zahlen:
• 1 2 3 4 5 6 7 8 9 … ∞
Die Vorstellung vom Zahlen- und Zeitstrahl konfrontiert uns mit den Begriffen Anfang (•) und Ende (∞), deren Totalität wir jedoch nicht wirklich verstehen. Die Null und das Nichts einerseits und die Unendlichkeit andererseits erzeugen Unbehagen, denn sie weisen uns auf unsere unvollkommenen Vorstellungen vom Sein und schließlich auf unser Ende hin.
Wir denken linear, doch die Welt funktioniert nicht linear. Immer wieder bricht das Unerwartete, das nicht oder schwer Berechenbare herein. Dass die Welt nicht einfach linear funktioniert, ist jedoch lebensnotwendig. Gäbe es das Unerwartete nicht, gäbe es kein Leben. Leben funktioniert nur durch die Lebensspannung von Bekanntem und Unbekanntem, von Erwarteten und Unerwarteten.
Unser Handicap, vorwiegend in einfachen linearen Verknüpfungen zu denken, beginnt sehr früh und nicht erst, wenn wir lernen in großen Zahlen zu zählen und uns der unheimlich erscheinenden Grenzpunkte Null und Unendlich bewusst werden. Im Blick auf den Zahlenstrahl beginnt unser lineares Denken bereits mit den ersten beiden Zahlen EINS und ZWEI.
Linearität beginnt beim Betrachten der einfachen Polarität der Zahlen: 1—2.
In der Konfrontation mit der Polarität entsteht das Verlangen, auch das über sie Hinausgehende zu erfassen. Das ist die Drei. Die erste Vorstellung von ihr wirkt sich jedoch für uns verhängnisvoll aus, denn sie ist unvollständig und somit falsch. Wir führen die bis dahin richtige Vorstellung von der Linie 1—2 einfach weiter und verlängern sie zu 1—2—3 … In diesem Tun vergessen oder ignorieren wir, dass die Welt und unser Dasein in Wirklichkeit mehrdimensional sind und die Linearität nur eine Krücke ist, um diese Mehrdimensionalität wenigstens bruchstückhaft erfassen zu können.
Trotz der Vorstellung vom Zahlenstrahls und seiner die Wirklichkeit verkürzenden Weise haben wir das Potential, den Fehler zu finden sofern wir die Bedingung hinterfragen, die uns zu der uns entgangenen, größeren Dimension führt. In unserem geometrischen Beispiel der Linie 1—2 ist es die Dimension der Fläche, die wir verpassen. Sie entsteht mit der Zahl 3, dem dritten Punkt unserer linearen Vorstellungswelt. Erst die richtige Vorstellung von diesem dritten Punkt eröffnet uns die Welt der Dimensionen.
Die Drei verlängert in Wirklichkeit nicht die Linie 1—2 sondern erhebt sich über sie, so, wie sich schon die Zwei über die Eins erhoben hat, um als solche überhaupt in Erscheinung treten zu können. Um diese verpasste Erhebung der Drei über die Linie der ersten beiden Entitäten Eins und Zwei dreht sich im Kern jede Religion und Philosophie.
Abb. 1: Die DREI verbindet die EINS und die ZWEI auf sichtbare Weise und erzeugt so die neue Dimension der Fläche.
Zeichnen wir in der Absicht der rechten, erhebenden Drei ein Dreieck auf, dann erfassen wir nicht nur die neue Dimension der Fläche. Wir erleben auch die wahre Qualität der Dreizahl. Sie führt nicht nur von der Qualität der Linie zur Qualität der Fläche sondern verrät uns darüber hinaus auch noch, aufgrund welcher ihrer Eigenschaften die neue Qualität entstanden ist. Es ist ihre Fähigkeit, die ihr vorangehenden Entitäten Eins und Zwei miteinander zu verbinden. In der ausschließlich linearen Vorstellung erschienen sie als Gegenpole. Dass die Eins und die Zwei auch vorher schon verbindende Eigenschaften hatten, das ist uns entgangen. Tatsächlich aber konnte die verbindende Linie nur durch sie entstehen. Mit der Drei tritt die bis dahin verborgen gebliebene Funktion nun in Erscheinung. Die Drei verbindet ihre Vorgängerinnen zu der Wirklichkeit der Fläche. Mit der Drei wird also das stets anwesende Additionsprinzip in unser Bewusstsein gehoben. Das macht sie zu einer Art Schlüsselzahl der Religionen und Philosophien. Sie verrät uns, dass die Ordnung allen Seins ist keine lineare sondern eine triadische Ordnung ist.
Im Anblick der Drei erfahren wir von der gleichzeitigen Existenz von zwei Qualitäten, der Linie und der Fläche, alias des linearen Fortschreitens (⇒) und des triadischen Fortschreitens . Das letztere eröffnet uns stets neue Dimensionen und mit jeder Dimension entstehen neue Linearitäten (s. Abb 2).
Abb. 2: Das triadische Denken lässt stets neue Linearitäten entstehen. Siehe 1 2 führt zu
Wir müssen in unserem Dasein nicht nur die linearen Zusammenhänge sondern auch die triadischen erfassen und darüber hinaus beide im Sinne der Drei vereinen. Konkret müssen wir die Linie und das Dreieck in einem fortschreitenden Bild vereinen. Das gelingt uns, wenn wir das Fortschreiten in Dreiecken, wie es uns beispielsweise die Dreiecke von PASCAL und SIERPINSKI zeigen, mit dem Zahlenstrahl verbinden. Zu diesem Zweck sollte man die fortlaufenden Zahlen in Dreieckformationen abtragen. Wir erhalten dann das folgende Bild, das zum Schlüsselbild eines umfassenderen Zahlen- und Weltverständnisses wird:
Abb. 3: Das „Zahlendreieck“© symbolisiert den Algorithmus der Schöpfung. Durch Abtragen der Zahlen des Zahlenstrahles in der Form von Dreiecken entsteht dieses Ur-Muster einer fraktalen Ordnung.
Das so entstehende Dreieck nenne ich einfach das Zahlendreieck©. In ihm erfahren wir durch die Stellung der jeweiligen Zahlen zueinander etwas über ihre Qualitäten, denn jede Zahl hat unter dem Vorbild der Drei eine verbindende Funktion. Sie verbindet die ihr vorangehenden und scheinbar unvereinbar gegenüberstehenden Polaritäten. Die Welt und unser Dasein so zu betrachten, bedeutet sie ganzheitlich zu betrachten und jedem Sein seinen fruchtbaren Platz in der Wirklichkeit einzuräumen.
1 Wo liegt das Missverständnis? Der Famulus (namens Wagner) bittet seinen Meister Faust um etwas, was dieser nicht liefern kann. Beide sind in der Linearität gefangen. Doch Faust ahnt dies. Wagner hingegen möchte den Weg seiner linearen Erkenntnis aber einfach nur „zu Ende gehen“. Das aber ist nicht möglich, denn es gibt aus der Sicht der höchsten philosophischen Erkenntnis kein Anfang und kein Ende. Das „Alles“ des Wagners ist eine Illusion. Es geht zunächst um das Unterscheiden von Ebenen im Sinne von Dimensionen. Anschließend geht es darum, die Bedingungen des Ebenenwechsel zu begreifen und schließlich darum, diesen Wechsel selbst zu vollziehen.